Das Multiple Lockdown-Portrait (2020)
Mit Fortschritt der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 wurde das Tragen einer Maske zum Schutz für Selbst und Andere schlagartig zur Norm. Besonders die frühe Phase der Pandemie, geprägt von Stoffmasken und vorläufigen Hilfsmitteln, verunsicherte den Umgang mit Mitmenschen und veränderte, wie sich gegenübergetreten wurde. In Das Multiple Lockdown-Portrait fängt Stephanie Bahrke bereits im November 2020 diese neue Begegnungssituation ein. In 90 Darstellungen verschiedener Personen mit der jeweiligen Lieblingsmaske über Mund und Nase zeichnen die Portraits das Bild eines neuen Normals, das von Solidarität und Mitgefühl, aber auch von Unsicherheiten und Ohnmacht geprägt ist. Dabei bilden die Portraits gemeinsam ein Werk, das für Betrachtende innerbildliche Zusammenhänge und spannende Fragen zulässt. Die Masken wirken weniger verhüllend, als dass sie zum individualistischen Ausdrucksmittel werden. Ein Moment des Mitfühlens entsteht, Betrachtende sind ebenso wie Dargestellte von der Pandemie und dem Maskentragen betroffen und können ihre Gefühle der Unsicherheit auf die Portraitreihe übertragen. Die Portraits stellen gemeinsam nicht eine anonyme Masse, sondern eine kollektive Erfahrung dar. Betrachtende stehen nicht 90 gemalten Gesichtern gegenüber, sondern werden in der Betrachtung Teil des Erlebten. Trotz – oder gerade wegen – der Raum einnehmenden Masken stechen in diesen Darstellungen die Augen darüber hervor. Sie sind zum absoluten Ausdrucksmittel geworden, können nun alleine Emotionen transportieren und Begegnung zulassen.
Stille Momente (2022)
Ungefähr ein Jahr nach der Portraitreihe führt die Reihe Stille Momente als Gegenstück die Gedanken des Pandemieprojekts weiter. Ohne Masken, dafür mit geschlossenen Augen, werden 90 Portraitierte hier in einer neuen Situation eingefangen. Das Gegenüberstehen und Betrachten der Portraitreihe hat sich verändert – die Werke wirken stiller, intimer, von einer Reflexion und Ruhe erfüllt. Wo zuvor Augen als ausdruckstarkes Merkmal herausstachen, stark über die Masken hinwegblickten, fallen diese nun weg. Der Anblick eines Gesichts mit geschlossenen Augen und entspannten Zügen wirkt zunächst ungewohnt, die Betrachtungssituation beinahe voyeuristisch, findet so ein Moment im Alltag ja quasi nie statt. Die Ruhe der Portraitierten wirkt bis in den Betrachtendenraum hinein und vermittelt einen Eindruck der Einkehr und des Reflektierens nach mehreren Pandemiejahren. Zwar sind die Masken nach zwei Jahren durch Impfung und Immunisierung weitestgehend gefallen, dennoch bleibt eine gesellschaftliche Ausnahmesituation bestehen, die den gemeinschaftlichen Umgang nachhaltig verändert hat.
Jedes Portrait kann einzeln bestehen und betrachtet werden, jedoch bildet jede Portraitreihe ein umfangreiches Werk. Die Bezüge innerhalb der zwei Portraitreihen sind vielfältig und intensiv. Besonders die Portraits jener Personen, die sich für beide Reihen portraitieren ließen, haben gemeinsam eine starke Wirkkraft. Eine Betrachtung beider Reihen gemeinsam zeigt auf, dass die 180 Einzeldarstellungen einen gemeinsamen Fokus haben: Beziehungen und Gemeinschaft. Dies wird auch in der Situation der Entstehung deutlich. Um Teil des Projekts zu werden, konnte sich jeder melden. Über Newsletter und Zeitungsartikel bis hin zum Aushang am Atelierfenster der Künstlerin im belebten Hamburger Stadtteil Winterhude und einem Beitrag der Künstlerin im NDR Fernsehen wurden Menschen auf das Portraitprojekt aufmerksam gemacht und bekamen die Möglichkeit teilzunehmen. Genau in der Zeit der pandemiebedingten Distanzierung begegnete die Künstlerin, unter Einhaltung der nötigen Hygienemaßnahmen, den Menschen in ihrem Atelier. Sie analysierte die Gesichter und portraitierte die Menschen, wie sie waren, im neuen Normal angekommen. Dafür nutzt Bahrke eine besondere Portraittechnik: Sie malt auf rohem Nessel, den sie zuvor nur mit Acrylbinder grundiert. So ziehen die Farben beim Malen in die Leinwand ein, und ein Eindruck besonderer Materialität und Haptik entsteht. Die Gesichter wirken nicht aufgesetzt wie eine Maske, sondern tiefgreifender und lebendiger. Farbtöne, die subtil auf den realen Gesichtern durchscheinen, werden hervorgeholt und verstärkt. So wirken die Portraits noch individueller und lassen das bloße Darstellen der Person auf Leinwand hinter sich – sie werden zu lebendigen, künstlerischen Abbildern des Menschen.
Dabei werfen die Reihen gesellschaftlich relevante und tiefgründige menschliche Fragen auf, die im Kontext der vergangenen Jahre aktueller denn je erscheinen: Welchen Stellenwert hat Gemeinschaft in dieser individualistischen Gesellschaft? Sind kollektiv erlebte und gefühlte Einsamkeit und Distanzierung leichter erträglich, und führt uns diese Erfahrung vielleicht schlussendlich näher zusammen? Wo liegen die gern übersehenen und unwichtig erscheinenden Aspekte der Begegnung, die doch so viel unserer Menschlichkeit ausmachen? Können wir wieder zusammenfinden? Stephanie Bahrkes Portraits sagen: „Ja, das können wir!“, und setzen erste Zeichen eines gemeinsamen Reflektierens. Sie führen vor Augen, dass Gemeinschaft und Hoffnung im Kleinen beginnt: bei Nachbarn, Kollegen, Fremden auf der Straße oder mit dem Tragen einer Maske, mit dem vertrauensvollen Schließen der Augen – dem Wissen, nicht allein zu sein.
Text: Megan Müller – Die in Hamburg lebende Kunsthistorikerin hat an den Stillen Momenten teilgenommen
Das Multiple Lockdown-Portrait (2020)
Mit Fortschritt der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 wurde das Tragen einer Maske zum Schutz für Selbst und Andere schlagartig zur Norm. Besonders die frühe Phase der Pandemie, geprägt von Stoffmasken und vorläufigen Hilfsmitteln, verunsicherte den Umgang mit Mitmenschen und veränderte, wie sich gegenübergetreten wurde. In Das Multiple Lockdown-Portrait fängt Stephanie Bahrke bereits im November 2020 diese neue Begegnungssituation ein. In 90 Darstellungen verschiedener Personen mit der jeweiligen Lieblingsmaske über Mund und Nase zeichnen die Portraits das Bild eines neuen Normals, das von Solidarität und Mitgefühl, aber auch von Unsicherheiten und Ohnmacht geprägt ist. Dabei bilden die Portraits gemeinsam ein Werk, das für Betrachtende innerbildliche Zusammenhänge und spannende Fragen zulässt. Die Masken wirken weniger verhüllend, als dass sie zum individualistischen Ausdrucksmittel werden. Ein Moment des Mitfühlens entsteht, Betrachtende sind ebenso wie Dargestellte von der Pandemie und dem Maskentragen betroffen und können ihre Gefühle der Unsicherheit auf die Portraitreihe übertragen. Die Portraits stellen gemeinsam nicht eine anonyme Masse, sondern eine kollektive Erfahrung dar. Betrachtende stehen nicht 90 gemalten Gesichtern gegenüber, sondern werden in der Betrachtung Teil des Erlebten. Trotz – oder gerade wegen – der Raum einnehmenden Masken stechen in diesen Darstellungen die Augen darüber hervor. Sie sind zum absoluten Ausdrucksmittel geworden, können nun alleine Emotionen transportieren und Begegnung zulassen.
Stille Momente (2022)
Ungefähr ein Jahr nach der Portraitreihe führt die Reihe Stille Momente als Gegenstück die Gedanken des Pandemieprojekts weiter. Ohne Masken, dafür mit geschlossenen Augen, werden 90 Portraitierte hier in einer neuen Situation eingefangen. Das Gegenüberstehen und Betrachten der Portraitreihe hat sich verändert – die Werke wirken stiller, intimer, von einer Reflexion und Ruhe erfüllt. Wo zuvor Augen als ausdruckstarkes Merkmal herausstachen, stark über die Masken hinwegblickten, fallen diese nun weg. Der Anblick eines Gesichts mit geschlossenen Augen und entspannten Zügen wirkt zunächst ungewohnt, die Betrachtungssituation beinahe voyeuristisch, findet so ein Moment im Alltag ja quasi nie statt. Die Ruhe der Portraitierten wirkt bis in den Betrachtendenraum hinein und vermittelt einen Eindruck der Einkehr und des Reflektierens nach mehreren Pandemiejahren. Zwar sind die Masken nach zwei Jahren durch Impfung und Immunisierung weitestgehend gefallen, dennoch bleibt eine gesellschaftliche Ausnahmesituation bestehen, die den gemeinschaftlichen Umgang nachhaltig verändert hat.
Jedes Portrait kann einzeln bestehen und betrachtet werden, jedoch bildet jede Portraitreihe ein umfangreiches Werk. Die Bezüge innerhalb der zwei Portraitreihen sind vielfältig und intensiv. Besonders die Portraits jener Personen, die sich für beide Reihen portraitieren ließen, haben gemeinsam eine starke Wirkkraft. Eine Betrachtung beider Reihen gemeinsam zeigt auf, dass die 180 Einzeldarstellungen einen gemeinsamen Fokus haben: Beziehungen und Gemeinschaft. Dies wird auch in der Situation der Entstehung deutlich. Um Teil des Projekts zu werden, konnte sich jeder melden. Über Newsletter und Zeitungsartikel bis hin zum Aushang am Atelierfenster der Künstlerin im belebten Hamburger Stadtteil Winterhude und einem Beitrag der Künstlerin im NDR Fernsehen wurden Menschen auf das Portraitprojekt aufmerksam gemacht und bekamen die Möglichkeit teilzunehmen. Genau in der Zeit der pandemiebedingten Distanzierung begegnete die Künstlerin, unter Einhaltung der nötigen Hygienemaßnahmen, den Menschen in ihrem Atelier. Sie analysierte die Gesichter und portraitierte die Menschen, wie sie waren, im neuen Normal angekommen. Dafür nutzt Bahrke eine besondere Portraittechnik: Sie malt auf rohem Nessel, den sie zuvor nur mit Acrylbinder grundiert. So ziehen die Farben beim Malen in die Leinwand ein, und ein Eindruck besonderer Materialität und Haptik entsteht. Die Gesichter wirken nicht aufgesetzt wie eine Maske, sondern tiefgreifender und lebendiger. Farbtöne, die subtil auf den realen Gesichtern durchscheinen, werden hervorgeholt und verstärkt. So wirken die Portraits noch individueller und lassen das bloße Darstellen der Person auf Leinwand hinter sich – sie werden zu lebendigen, künstlerischen Abbildern des Menschen.
Dabei werfen die Reihen gesellschaftlich relevante und tiefgründige menschliche Fragen auf, die im Kontext der vergangenen Jahre aktueller denn je erscheinen: Welchen Stellenwert hat Gemeinschaft in dieser individualistischen Gesellschaft? Sind kollektiv erlebte und gefühlte Einsamkeit und Distanzierung leichter erträglich, und führt uns diese Erfahrung vielleicht schlussendlich näher zusammen? Wo liegen die gern übersehenen und unwichtig erscheinenden Aspekte der Begegnung, die doch so viel unserer Menschlichkeit ausmachen? Können wir wieder zusammenfinden? Stephanie Bahrkes Portraits sagen: „Ja, das können wir!“, und setzen erste Zeichen eines gemeinsamen Reflektierens. Sie führen vor Augen, dass Gemeinschaft und Hoffnung im Kleinen beginnt: bei Nachbarn, Kollegen, Fremden auf der Straße oder mit dem Tragen einer Maske, mit dem vertrauensvollen Schließen der Augen – dem Wissen, nicht allein zu sein.
Text: Megan Müller – Die in Hamburg lebende Kunsthistorikerin hat an den Stillen Momenten teilgenommen